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Headhunterin für Azubis

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Früher mussten Betriebe um Spitzenkräfte buhlen. Heute auch um Nachwuchs. Manche setzen auf ein Bewerber-Tinder. Uschi Knieling hat ihr eigenes Geschäftsmodell entwickelt. Ihre Schützlinge muss sie bis zum Vorstellungsgespräch begleiten.

"Oh nein, du hast nach rechts geswipt, jetzt hast du dich verliebt", scherzen drei fünfzehn Jahre alte Schüler und beugen sich über das Tablet. Zu Beginn der Unterrichtsstunde stehen alle auf und sprechen im Chor: "Guten Morgen, Herr Conze." Der Klassenlehrer drücke jedem Schüler ein Tablet in dicker Schutzhülle aus Gummi in die Hand. Wie selbstverständlich wischen die Schüler auf dem Display nach links und nach rechts.

Seit der Erfindung der Dating-App Tinder ist das Prinzip von Matches allen im Raum bekannt. Nur geht es in der sechsten Stunde an der Gesamthauptschule am Wilzenberg im sauerländischen Schmallenberg nicht um Dating, sondern darum, eine geeigneten Praktikums- oder Ausbildungsplatz zu finden. Einige Schüler sitzen konzentriert an ihrem Tisch, andere haben sich in kleinen Grüppchen zusammengefunden und tauschen sich über ihre Matches mit den ortsansässigen Unternehmen aus.

Der Mangel an Auszubildenden ist überall präsent und erfordert immer kreativere Strategien. Laut der Bundesagentur für Arbeit blieben im Jahr 2023 mehr als 250.000 Ausbildungsstellen unbesetzt. der demographische Wandel ist spürbar. Während die Generation "Babyboomer" in Rente geht, rücken weniger junge Arbeitskräfte nach. Gleichzeitig bleiben etwa 150.000 Bewerber im Sommer 2023 ohne Ausbildungsplatz.

So steigt die Zahl der jungen Erwachsenen zwischen zwanzig und vierunddreißig Jahren ohne formalen Berufsabschluss seit einigen Jahren. Häufig wird auf mangelndes Interesse und fehlende Motivation geschlossen. Den Autoren des Berufsbildungsberichts zufolge ist der Grund aber, dass Stellenangebote und Berufsorientierung die Schulabgänger oft nicht mehr in ausreichendem Maße erreichen.

Die Gemeinde Schmallenberg wirkt überschaubar, vielleicht sogar ein bisschen verschlafen. Dis zur nächsten Autobahn ist es mindestens eine halbe Stunde Fahrzeit durch die sauerländischen Berge. Eine Bahnverbindung gibt es nicht. Zwar ist die Arbeitslosenquote in der Gemeinde mit rund drei Prozent eine der geringsten in Südwestfalen. Darauf ausruhen könne man sich allerdings nicht, sagt Hubert Sasse. Sie leitet die Wirtschaftsförderungsgesellschaft in Schmallenberg. "Azubimangel herrscht bei uns genauso wie in anderen Regionen, und wir mussten uns etwas einfallen lassen, um die Jugendlichen zu erreichen."

Sasse besucht heute den Unterricht an der Gesamthauptschule. Als sie den Unterrichtsraum betritt, schlägt ihr lauten Stimmengewirr entgegen. Die Neuntklässler beenden noch schnell ihre Pausengespräche, bevor sie sich auf ihre Plätze setzen. Seit einigen Monaten gehören auch Schulbesuche zu Sasses Arbeitsalltag. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Janne Hernandez stellt sie die AzubMe-App in der Schule am Wilzenberg vor und hilft den Schülern, ihre Profile zu erstellen. Die Luft im Raum ist warm und stickig, der Klassenlehrer öffnet das Fenster. "Wer von euch hat die App schon installiert?", fragt Sasse. Einige Hände heben sich. Nur Jungen sitzen im Klassenzimmer. Die Mädchen sind indem Jahrgang deutlich in der Unterzahl.

"In das Profil tragt ihr eure Qualifikation ein, aber auch Hobbys und Interessen", erklärt Sasse. Mithilfe von Schiebereglern geben die Schüler an, ob ihre Stärken eher in Feldern wie Technik und Handwerk oder in der Arbeit mit Menschen liegen. In Textfelder tragen sie ein, an welchen Schul-AGs sie teilnehmen, welchen Hobbys sie nachgehen und was ihre Lieblingsfächer sind. "Bitte auf die Rechtschreibung achten", sagt Sasse und schaut einem Schüler über die Schulter, als er in der App einträgt, ab wann sein Praktikum beginnen kann. "Und denkt daran: Das Bild, das ihr in der App hochladet, sieht euer zukünftiger Chef."

Seit Oktober 2023 nutzen die Schüler in Schmallenberg die AzubMe-App. Denn klassische Broschüren und Jobbörsen ziehen junge Menschen nur noch selten zurate, sagt Huberta Sasse. "Unser gedruckter Ausbildungsatlas ist vor allem eine gern genutzte Informationsmöglichkeit für die Eltern. Jugendliche sind dagegen auf dem Handy unterwegs, aber dann auch nicht mehr klassisch auf Webseiten. "Die Hoffnung ist also, die jungen Menschen mit der AzubMe-App dort abzuholen, wo sie sowieso viel Zeit verbringen: am Handy.

"Wer von euch schaut den regelmäßig in die App?" fragt Sasse in die Runde. Ein Junge meldet sich. Maik sitzt in der ersten Reihe, auf seiner Oberlippe zeichnet sich ein erster Flaum ab. Im Januar macht der Neuntklässler ein einwöchiges Praktikum bei Transfluid. "Ich habe nach rechts geswipt, und wenig später hat mir das Unternehmen geschrieben", erinnert er sich. Auf das Erfolgserlebnis musste Maik also nicht lange warten. Häufig antworten Unternehmen noch am selben Tag, manchmal dauert es nur ein paar Minuten bis zur ersten Nachricht.

Maik ruft nicht dazwischen, er meldet sich, wenn er etwas sagen möchte. Dabei sind seine Antworten nie länger als unbedingt nötig. Die Chatfunktion in der App hat Maik gern genutzt. Zahlreiche Nachrichten haben das Unternehmen und der zukünftige Praktikant ausgetauscht. "Für die Schüler ist es oft wesentlich einfacher, eine Nachricht über die App zuschicken", sagt Sasse.

Denn Direkt in einem Unternehmen anzurufen sei für viele junge Menschen eine große Überwindung. Anschließend hat Maik eine kurze Bewerbung nachgereicht. In der App geht es weniger um Zeugnisse und ein formelles Anschreiben. Vielmehr sollen die Unternehmen und die Jugendlichen schnell und unkompliziert ins Gespräch kommen.

Über fünfzig der ansässigen Unternehmen in Schmallenberg haben inzwischen Ausbildungsstellen oder Praktika ausgeschrieben - darunter bekannte Namen wie der Textilhersteller Falke oder das Maschinenbauunternehmen Transfluid. Auch sie müssen um das Interesse des Nachwuchses werben. Denn die Arbeitswelt hat sich gewandelt, die Machtverhältnisse im Bewerbungsprozess haben sich verschoben.

Während ihre Eltern noch um einen Ausbildungsplatz kämpfen , gute Zeugnisse und hohe Motivation vorweisen mussten, können sich Maik uns seine Mitschüler inzwischen fast zurücklehnen. Denn jetzt, wo der Nachwuchs knapp ist, müssen sich viele mehr die Unternehmen bei den Jugendlichen bewerben - und nicht andersherum.

Maik und das Unternehmen Transfluid sind nur eines  von rund siebenhundert Matsches, die in der Region Schmallenberg zustande gekommen sind. Das liegt zu einem nicht unerheblichen Teil an dem Engagement und den regelmäßigen Schulbesuchen von Sasse und Hernandez. Zwar ist Schmallenberg die flächenmäßig größte Gemeinde in Nordrhein-Westfalen, die Strukturen sind aber kleinteilig. Man kennt sich im Ort.

"bei uns funktioniert es mit der App so gut, weil wir sehr eng mit den Schulen zusammenarbeiten können", sagt Hernandez. "Wir kennen die Lehrer persönlich, gehen in die Klassen und arbeiten direkt mit den Schülern zusammen." In vielen Fällen helfe es, mit den Jugendlichen darüber zu sprechen, wo ihre Interessen liegen und was für einen Beruf sie sich nach dem Schulabschluss vorstellen können, sagt Sasse. "Die Schülerinnen und Schüler der achten und neunten Klassen sind zwar Jugendliche, aber in vielem auch noch Kinder. Oft sind sie sich Ihrer Stärken gar nicht richtig bewusst."

... Die neunte Klasse der Schule am Wilzenberg wird im Sommer 2025 ihren Abschluss machen. Anfang August beginnt das Ausbildungsjahr. Im besten Fall entwickelt sich aus einem der Praktika, die Maik und seine Klassenkameraden in ihrer Schulzeit machen, später eine Ausbildung. Der Wunsch ist groß, dass die Jugendlichen nach dem Abschluss nicht in die nächste Schule gehen oder weit weg in eine Universitätsstadt ziehen.

"Den jungen Menschen soll die Möglichkeit einer Weiterbildung mit Blick auf ein Studium nicht genommen werden", sagt die Geschäftsführerin der Wirtschaftsförderung, Huberts Sasse. Für viele Jugendliche, wenn sie mit sechzehn Jahren ihren Abschluss in der Tasche haben, sei es aber oft sinnvoller, erst mal zu arbeiten. Schließlich stehen den jungen Erwachsenen schon jetzt alle Türen offen. Denn die Betriebe, ob in Schmallenberg oder Worms, haben ohne die Jugendlichen keine Zukunft.

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